Der Ballett-Geschichte zweiter Teil - Interview mit Karl Reinisch

F: Was macht Ballett für Sie in seiner Gesamtheit aus? Ist da mehr als „nur“ Beherrschung des Körpers und künstlerischer Ausdruck?

A: Da ich nie genau wusste, ob ich lieber Pfarrer oder Tänzer werden sollte, möchte ich auf die höhere Ebene des Balletts zu sprechen kommen. Geist, Seele und Körper machen die Gesamtheit des Menschen aus und entsprechen den drei großen Kulturbereichen Kunst, Wissenschaft und Religion. In diesem Sinne habe ich das Ballett immer gesehen, das Streben nach Vollkommenheit, nach Höherem, wie in der Religion auch … Nicht der Spaß sondern die Freude, die edle Schwester des profanen Spaßes, ist hier im Vordergrund. (Es heißt ja auch Freude schöner Götterfunke und nicht Spaß …)

Versuche, das Verlangte umzusetzen     © EMMA 2016

Der Versuch, das Verlangte umzusetzen     © EMMA 2016

Nach außen hin ist die Haltung im Vordergrund. Haltung nicht nur als körperlicher Zustand, sondern gepaart mit innerer Haltung. Im Ballett wird der ganze Körper trainiert, jeder Muskel, jedes Gelenk. Wo gekräftigt wird, wird auch gedehnt, und wenn das alles nach anatomischen Grundsätzen durchgeführt wird, wie ich es mir zum Ziel gesetzt habe, gibt es nichts Besseres für die Gesundheit. Interessant ist auch die Grenzerfahrung, die man als Erwachsener macht: durchhalten, Perfektion anstreben mit der Erkenntnis, dass man sie nicht mehr erreicht und akzeptieren lernen, dass es so ist. Für Kinder und Jugendliche kommt der unschätzbare Effekt der Disziplin, der Konzentration und des guten Benehmens zu den körperlich-gesundheitlichen Aspekten. Die fließenden, harmonischen Bewegungen des Balletts erfordern darüber hinaus hohe Koordinationsfähigkeit, erfüllen den Schüler mit einem guten Geist, mit positiven Energien. Eine Stunde Ballett ist die beste Psychohygiene, gestand mir einmal ein Schüler aus einer Erwachsenenklasse in Starnberg. Es hat mich besonders gefreut, weil er, wie ich nachher erfuhr, einer der damals führenden Psychotherapeuten Deutschlands war.

Glücklich! ... wenn auch alles andere perfekt     © 2016 EMMA

Glücklich! … wenn auch alles andere als perfekt    © 2016 EMMA

F: Und jetzt wieder eine Frage zu erwachsenen Anfängern und Schülern. Gibt es zu dem vorhin Gesagten ein praktisches Beispiel?

A: Eine sehr sympathische, introvertierte und etwas gehemmte Dame gegen Ende 30 kam einmal in mein Münchner Studio und erkundigte sich nach einem ANFÄNGERKURS für Erwachsene. Sie war so ganz anders als die üblichen Anfänger, weshalb ich sie fragte, warum sie eigentlich Ballett machen will. Nach einer Pause sagte sie: ´Wissen Sie, mein Mann hat eine tolle Stelle bekommen mit viel Repräsentationsverpflichtungen. Und er möchte immer, dass ich dabei bin. Ich weiß, welches Bild ich abgebe, aber ich möchte ihm beistehen und so richtig dekorativ in einem kostbaren Dirndl dasitzen, dass er stolz sein kann auf mich. Wir fingen mit der Arbeit an, sie war steif wie ein Besen, koordinationsgestört und gab mit ihrer introvertierten Haltung ein klägliches Bild ab. Sie hatte aber etwas Faszinierendes in ihrer Ausstrahlung und nahm die Sache ernst. Nach einem Jahr hatte ihr schönes Inneres auch nach außen hin Gestalt angenommen. Sie hatte sich in allem gesteigert und richtig Freude am Ballett entwickelt. Geist und Seele waren immer da, so wie der Körper kamen nun auch Geist und Seele in Einklang und durch das Ballett-Training strahlte jetzt ihre ganze Persönlichkeit Harmonie aus. Das zu sehen, war für mich ein großes Erlebnis. Nur die Dehnungsübungen gingen nicht voran, so sehr sie sich auch bemühte. Nach weiteren 2 Jahren, ich war gerade beim Tonbandgerät mit der Musik beschäftigt, schrie die ganze Klasse „Herr Reinisch, Herr Reinisch!“ Ich drehte mich – nichts Gutes ahnend – um. Da riefen alle „Herr Reinisch, die Frau L. sitzt im Spagat!“ Auch das hatte sie geschafft und noch viele Jahre weitergetanzt.

Fortsetzung folgt …

 

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